Brot für die Füße
Nach der just hinter uns liegenden Brot-für-die Welt-Aktion in jeder Weihnachtszeit nun dies? Brot für die Füße. Es war in St. Petersburg. Nein, nicht jenes im alten Mütterchen Russland, das wir sowieso mit Brotgeschichten verbinden. Geschichten um Brot von Tolstoi, Romane um Brot von Dostojewskij. Bei denen und allen davor erhob sich die älteste Frage des Menschen angesichts von arm und reich: Wieviel Brot (Erde) braucht der Mensch? Nein, es war das St. Petersburg in den USA, auf dem super- affengeilen Boden von Florida, als sich diese Frage für Sina und Dorothea erhob. Verständlich, daß die Geschichte, vom nötigen Brot für den Menschen sich entsprechend dem modernen Amerika von heute und entsprechend dem Alter von den beiden Teenagern, den Trägern unserer Zukunft begab: Sina hatte sich eine Blase unter der (linken) Fuß- sohle angelaufen. Kein Wunder bei Sinas Fußfleisch, das die winterliche Kälte Niedersachsens und nicht bloße Haut in Leder bei 28 Grad gewohnt war. Während Sina ihrem Fußleiden Ausdruck gab, spürte Dorothea nicht nur Hilfsbereitschaft, sondern Hunger. Hunger auf Hamburger. Hamburger sind in weiches Brot gehüllt und eben dieses wurde zur Medizin: Zunächst wurde Sinas Fußsohle in das Brotnachthemd des einen Hamburgers gegipst, dann - als noch Freiräume im Schuh blieben wurde ein zweiter Hamburger gekauft. Wegen des weichen Brotes, das als medizinische Notsohle die Blase weich bettete und den Schmerz so linderte, daß Sina und mit ihr Dorothea weiterschlichen. Wenn jemand jetzt (wie ich) zunächst bekümmert den Kopf schütteln sollte über so viel Ignoranz dem Brot gegenüber, unserer Lebensbasis, über der- artige Unsensibilität gegenüber dem Hunger in der Welt oder doch zumindest den Plakaten gegenüber, die diesen Hunger überall zeigen - dem kann Trost zuteilwerden. Denn auch diese Geschichte endet für das Brot dort, wofür Gott (oder was wir ihn nehmen) den Menschen das Brot schaffen ließ: Im Mund. Als Nahrung. Als nötige Stillung für einfachsten Hunger: Füllung des Magens. Denn die erfolgreiche Blasen- Behandlung an Sinas Fuß geschah rund zwei Meilen entfernt von dem rettenden Hotel am Strand, an dem wegen des Winters keine Buden amerikanischen Lebensmittelüberfluss anboten. Und deswegen meldete sich der Hunger bei beiden derart, überlagerte der Primärtrieb schließlich den Schmerz Sinas in einer Weise daß beide be- schlossen, den zerquetschten, kaum als Lebensmittel wieder zu erkennende Matsch aus Sinas Schuh, zumal dieser Matsch bereits über den Rand quoll, somit auch nicht zu übersehen war als eigentlich Essbares - zu essen. Es soll geschmeckt haben wie jedes Brot einem Hungrigen schmeckt. Und insofern endet auch diese schlimm-moderne Geschichte ähnlich, wie manche schlimm-alten Geschichten um Brot im alten Mütterchen Russland endeten. Zum Beispiel in St. Petersburg.
17. Januar 1995